Dienstag, 26. Mai 2020

Klickscham auf der Couch?

Klickscham auf der Couch?

Heute vor zehn Wochen begann es für mich. Alle Veranstaltungen, die ich geplant hatte, wurden abgesagt oder hoffnungsvoll auf den Herbst verschoben. Ich selbst verschob mich auch, und zwar auf die Couch, denn das Erste, was mir auffiel, war, dass ich ohne kaum mehr etwas zu tun hatte. Zudem war es für meine Kreativität mehr als lähmend, ohne Impulse von anderen zu Hause sein zu müssen. Also saß ich abends auf der Couch, betrachtete die Wand und zählte die Löcher, die angenagelte Bilderrahmen auf ihr hinterlassen hatten. Zwei! Es hängen genau zwei Bilder an besagter Wand. Ich fand schnell heraus, dass dies nichts war, das mich lange herausfordern würde. Es rettete mich mein fast erwachsener Sohn. „Papa“, sagte er, „ich richte dir jetzt Netflix ein!“ Minuten später hatte er mir einen Zugang zu seinem Account erstellt. Das Einzige, was ich tun musste, um mich vor dem abendlichen Bis-Zwei-Zählen zu retten, war, mit der Maustaste auf jenen Knopf zu drücken, unter dem Papa stand und auf dem frecherweise ein grinsender Glatzkopf abgebildet war. Ich tat es und war beschäftigt. Doch das war nicht der einzige Effekt, denn es weckte auch meine Kreativität.

Während ich einem Wikinger zuschaute, wie er seine doppelköpfige Axt schwang, erinnerte ich mich an einen Zeitungsbericht: Eine Stunde Video-Streaming produziert so viel CO2 wie ein Kilometer Autofahren. Ich versuche seit langem, so wenig mit dem eigenen Auto zu fahren, wie es mir nur möglich ist, und nun setze ich mich bereitwillig auf die Couch und fahre abendlich ein paar Kilometer, ohne dabei vom Fleck zu kommen? Ist das ökologisch? „Die Internetnutzung in Deutschland produziert jedes Jahr so viel CO2 wie der gesamte Flugverkehr“, las ich weiter. Weltweit produzieren IT-Geräte und -Anwendungen jährlich so viel CO2, wie Deutschland insgesamt emittiert. Das Fliegen habe ich aus bekannten Gründen aufgegeben, und nun scheint es, als sei ich dennoch Passagier einer Daten-Airline. Während vor meinen Augen die spanische Banknotendruckerei überfallen wurde, sinnierte ich darüber, was auf der Habenseite des Vergleichs steht. Möchte ich einen Film ausleihen, ohne auf das Internet zurückzugreifen, fällt mir die gute alte Videothek ein.

Suche ich auf der Internetseite der Gelben Seiten nach Videotheken (0,2 Gramm CO2 verbraucht das) bekomme ich im 20-Kilometer-Umkreis von Friedberg ganze drei Ergebnisse. Im Mittel beträgt die Entfernung für alle, die dazwischen wohnen, gut vier Kilometer, acht hin und zurück. Das ist sind zweieinhalb Serienstaffeln, in denen ich Sherlock Holmes zahlreiche Morde aufklären sehen kann. Hinzu kommt, dass jede Videothek ein großer 24-stündig beheizter Raum ist, Fläche verbraucht und zig-hundertfach eigens dafür, ebenfalls unter CO2-Freisetzung produzierte Polycarbonat-Scheiben im Polypropylen-Mantel beherbergt. Bedeutet das, dass Streaming doch nicht so umweltschädlich ist? Nein, es bedeutet nur, dass die Rechnung nicht so einfach ist, wie häufig dargestellt. Bevor zu streamen beliebt wurde, gab es ein Vielfaches an Videotheken. Deren eingesparte Energieaufwände stehen auf der Habenseite. Sicherlich streamen wir heute mehr als wir früher in die Videothek fuhren. Dafür waren die Fernseher damals energiehungriger als unsere streamenden Laptops und Tablets heute. Wie üblich macht die Dosis das Umwelt-Gift. Die isolierten Zeiten gehen vorbei, und mit ihnen ersetzt der Biergarten Declan Harps Kampf gegen die Hudson’s Bay Company. Das schont die Umwelt und zugleich die Augen!

Dienstag, 12. Mai 2020

Die vegane Weltverschwörungsgruppe

Attila Hildmann - Die vegane Weltverschwörungsgruppe

Menschen lieben es, Gruppen zu bilden. Das ist geschichtlich betrachtet sinnvoll. Gemeinsam mit anderen überlebt es sich besser. Heute, in Zeiten, in denen zumindest wir keinen Überlebenskampf führen müssen – es gibt keine Hungersnöte, wo eine Gruppe toll wäre, die Überschüsse erwirtschaftet und eingelagert hat, auch keine Kriegszustände, in denen Teil einer Gemeinschaft zu sein, die aufeinander aufpasst und ihre Mitglieder schützt, lebenswichtig wäre –, schwenkt das Gruppenleben zum Gruppenglauben. Du glaubst, die Erde ist flach? Es gibt eine Gruppe. Du glaubst, es gibt eine kleine weltdominierende Elite. Die Gruppe gibt es. Du glaubst, du lebst in einer Diktatur, regiert von der BRD GmbH oder unterirdisch lebenden Echsenmenschen, angeführt von der Frau mit der Raute? Auch hier gibt es eine Gruppe. Das hilft dir zwar nicht, wenn eine Hungersnot oder Krieg ausbrechen, aber es beschäftigt dich, solange alle satt und in Frieden leben. Die Liebe zur Bildung von Gruppen ist Teil unseres Denkens. Treffen wir auf einen anderen, versuchen wir unterbewusst, ihn in eine Gruppe einzuordnen. Das hilft dabei, ihn aufgrund von Erfahrungen, die mit Angehörigen solcher Gruppen gemacht wurden, einzuschätzen. Hilfreich, aber nicht sinnvoll, wenn es dabei bleibt, ohne das Individuum im Anschluss ebenfalls einer Prüfung zu unterziehen und neue Erfahrungen zuzulassen. Das passiert gerade im Casus Attila Hildmann. Der Vegan-Kochbuch-Autor machte kürzlich von sich reden, als er eine Weltverschwörung im Zusammenhang mit Corona medial bekannt gab, sich kämpferisch mit Gewehr in Pose ablichtete und zur Demo aufrief, um die Demokratie zu retten.

„Du bist doch Veganer, oder?“, höre ich, als ich das Haus verlasse. „Ja!“, sage ich und glaube zu erkennen, wie mein Gegenüber hinter dem Rücken aus der Verpackung seines Döner-Sandwichs einen Alu-Hut formt. „Kennst doch den Hildmann, oder? War in den Nachrichten!“, sagt mein Bekannter. Ich nicke, sage: „Ja!“ und denke, dass dessen veganer Snack-Laden in Berlin auch einen fleischlosen Döner hat und frage mich, welche Kundschaft er künftig haben wird. Viele seiner veganen Kunden wird er verlieren und dafür ein paar Impf-Gegner, Reichsbürger und Echsenmensch-Experten gewinnen. Wahrscheinlich werden einige Großabnehmer seine veganen Produkte aus dem Sortiment nehmen. Hatte ohnehin bislang keins getestet, denke ich mir und konzentriere mich wieder auf meinen Bekannten. Der schaut nachdenklich nach unten. Er sucht nach der passenden Gruppe. „Corona-Lagerkoller!“, mutmaßt er. „Psychose. Schlimm sowas!“ Ich nicke. Und bin gleichzeitig überrascht. „Hitler war auch Vegetarier!“, habe ich schon so oft gehört. Das Reductio ad Hitlerum ist ein beliebter Trugschluss, der rhetorisch oft zum Einsatz kommt – so durchschaubar das Scheinargument auch ist. Es ist der plumpe Versuch, pflanzliche Ernährung zu diskreditieren, indem die schlimmste Figur der deutschen Geschichte mit ihr in Verbindung gebracht wird; dabei hält sich diese Annahme genauso hartnäckig, wie sie schlichtweg nicht zu treffend ist. Reductio ad Hildmannum! Damit hatte ich gerechnet. Ist Hildmann so, muss die Gruppe so sein: Weltverschwörerisch! Dabei ist, vegan zu essen und vegan zu wirtschaften nur eine Komponente des Individuums Hildmann. Ebenso gehört er derzeit in die Gruppe der Weltverschwörer und vielleicht auch in die der unter Psychosen Leidenden. Ich wünsche ihm jedenfalls gute Besserung. Wenn ich mal wieder in Berlin bin, werde ich dennoch nicht bei ihm essen.

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