Sonntag, 6. Juni 2021

Und da war es nur noch eins

Und da war es nur noch eins

Seit einiger Zeit leben meine Freundin und ich nun in einer unfreiwillig verkleinerten Wohnung. Ein einziger Wasserschaden, und schon fehlt einem aus heiterem Himmel ein Raum, unsäglicher Weise ausgerechnet unsere Küche. Bevor der Küchenboden entfernte wurde, um den Raum zunächst zu trocknen und schließlich die Balken auszutauschen, machten wir uns Gedanken, welche Gegenstände wir dringend benötigen würden, haben alles Nötige in die Unterschränke geräumt und den Rest in die Oberschränke, die dort verbleiben konnten. Die Küchenzeile steht nun im angrenzenden Flur und ist nicht geeignet, ihren Funktionen wie dem Backen vollumfänglich nachzukommen, dafür bestens, um immer wieder dieselbe Stelle meiner Ellenbogen schmerzlich daran zu erinnern, dass er nun keine 1,20 Meter mehr breit ist. Inzwischen sehe ich aus, als hätte ich dort je zwei Gelenke. Da fast alle unsere haltbaren Lebensmittel wie Getreide, Nüsse, Trockenfrüchte und Sämereien in großen Gläsern auf den Küchenschränken gestanden hatten, mussten wir zwei Schränke im Wohnzimmer räumen, deren Inhalt sich nun in gestapelten Kisten befindet oder sich eng in andere Schränke hinzugesellen musste. Im Wohnzimmer steht nun unsere Kommode aus dem Flur und daneben eine elektrische Kühlbox. Die Tage laufen derzeit unter der Überschrift: Unser Leben in einem Gebrauchtmöbelkaufhaus.
Stören wir uns daran? Nein! Wir freuen uns zwar, wenn der Status Quo wieder hergestellt sein wird, aber wir sehen auch die Chancen und nutzen die Vorteile. Am Couchtisch zu essen, ist ungewohnt, dafür können wir anschließend unmittelbar von der sitzenden in die liegende Position wechseln und so den Verdauungsprozess von unnötiger Ablenkung wie Bewegung entlasten. Auf einer Kommode im Wohnzimmer Gemüse zu schneiden, erscheint ungewöhnlich, dafür ermöglicht es uns, währenddessen aus dem Fenster auf den Winterstein zu schauen. Ach, wie sehr der schöne Ausblick doch unseren Heftpflasterbedarf angehoben hat. Mit nur einer geliehenen Einzelkochplatte Essen zuzubereiten, mag sehr reduziert klingen, doch seitdem ist der Rohkostanteil in unserer Ernährung auffällig gestiegen. Ich könnte mir vorstellen, dass der nächste Gesundheitscheck zu traumhaften Ergebnissen führen wird. Keine Abzugshaube und nur ein Kippfenster über der Kochplatte zu haben, mag den einen oder anderen Lesenden befürchten lassen, dass der Flur tagelang nach dem Mittagessen riechen könnte. Weit gefehlt, er riecht nach allen dort zubereiteten Malzeiten. So viele schöne olfaktorische Erinnerungen an kulinarische Highlights auf der Couch.
Zu guter Letzt hat dieses Abenteuer bewirkt, dass wir über unseren Besitz nachdenken konnten und erstaunt sein durften, mit wie wenig wir tatsächlich auskommen, wenn es nötig ist. Durch das Zusammenrücken im Wohnzimmer sind mir viele Dinge in die Hände gefallen, die ich lange nicht mehr genutzt habe. Drei Kopfhörer, die eine Schublade belagerten, in der sich nun Besteck befindet, habe ich auf einen reduziert und zwei verschenkt. Das gleiche Schicksal traf Bücher aus einem Regal, in dem getrocknete Himbeeren, Feigen und Datteln ihr neues Zuhause gefunden haben. Wir leben nur mit der Hälfte dessen, was sich in unseren Küchenschränken befindet. Auch hier können wir jede Menge an Menschen verschenken, die es im Gegensatz zu uns brauchen. Das wird jedoch noch etwas auf sich warten lassen müssen. Uns fehlt der Küchenboden, um an die Oberschränke heranzukommen. Bis dahin genießen wir den Blick auf den Taunus und knabbern rohen Kohlrabi.


Donnerstag, 6. Mai 2021

Nicht alles ist Regen

Nicht alles ist Regen

Als ich diese Kolumne schrieb, schaute ich vor dem ersten Satz aus dem Fenster. Regen, nichts als Regen. Und das an einem Sonntag. Dabei hätte ich so gerne Sonne gehabt. In einem solchen Moment wäre es mir leichtgefallen, ein Thema zu wählen, dass mich in dieser Übellaunigkeit passend zum Wetter hält. Stattdessen schaute ich nach der Sonne. Zwar brauche ich weniger Zeit, etwas über all das, was wir in der Umweltpolitik noch verbessern, in unserem eigenen Verhalten ändern und was unsere Firmen anpassen müssen, um nachhaltig zu sein, zu schreiben, doch Sonnenschein ist so etwas Schönes, Wärmendes, das einen Menschen grundlos lächeln lassen kann. 

Meine Chefin fragt nach unserer wöchentlichen Besprechung immer „Was läuft gut?“ Was also läuft gut? Im letzten Jahr wurden 19,3 Prozent des deutschen Endenergieverbrauchs aus erneuerbaren Energien gedeckt, hat das Umweltbundesamt im letzten Monat veröffentlicht. Das ist ein Höchststand, über der EU-Zielvorgabe von 18 Prozent, und der Blick in die drei Sektoren Strom, Wärme und Verkehr zeigt, dass es im Kern nur die beiden letztgenannten sind, die sich zwar auch kontinuierlich verbessern, aber eben deutlich geringer im Vergleich zum Stromsektor. Der ist der wahre Gewinner mit einem Rekordanteil von 45,4 Prozent, mehr als doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren. Das sind doch schon ein paar deutlich wärmende Sonnenstrahlen. Was ist noch gut? Unsere Klimabilanz war im letzten Jahr so gut, dass wir unsere selbst gesetzten Klimaziele 2020 übererfüllen konnten: Statt 40 waren es 40,8 Prozent weniger Emissionen als 1990 und 8,7 Prozent weniger als im Vorjahr. 

Zugegeben, diese Sonnenstrahlen stechen etwas in den Augen, denn die Pandemie mit all ihren noch anhaltenden Begleiterscheinungen war der Hauptverursacher dieser positiven Entwicklung. Doch manchmal hilft es, die Sonne dort zu sehen, wo man sie eigentlich nicht vermutet. In der Umfrage Ernährungsreport 2020 gaben 26 Prozent der Befragten an, täglich Wurst oder Fleisch zu konsumieren. Im ersten Report vor fünf Jahren waren es noch 34 Prozent, berichtet das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Auch das ist gut. Für Mensch, Tier und Umwelt. Der Pro-Kopf-Verzehr von Fleisch ist laut der aktuellen Versorgungsbilanz Fleisch im Jahr 2020 auf ein Jahrzehnte-Tief gesunken. Mit 57,3 Kilogramm pro Person war der Konsum so niedrig wie noch nie seit Beginn der statistischen Erfassung im Jahr 1989. In der Spitze lag er bei über 90 Kilogramm. Zusätzlich sanken im letzten Jahr sowohl die Im- als auch die Exportzahlen. Der Pro-Kopf-Konsum ist immer noch höher als das, was die Deutsche Gesellschaft für Ernährung als gesund erachtet und sehr viel mehr als das, was aus klimapolitischer und Tierschutzsicht zu fordern wäre, aber es sind dennoch Sonnenstrahlen. Sie blenden nicht, aber tragen ihren Anteil am Licht. 

Auch Unverpacktläden laufen gut. Sie tragen einen wichtigen Anteil daran, das Einkaufen loser Waren und damit das Sparen von Umverpackungsmüll zu einem Erlebnis, aber vor allem wieder zu einem Standard zu machen. Vor sieben Jahren hatte der erste Laden eröffnet. Das war in Kiel. Noch im selben Jahr folgten weitere. Im Januar zählte das Enorm-Magazin auf seiner Website bereits über 160 deutschlandweit, dazu verschiedene Supermarktketten wie EDEKA und tegut die Unverpacktbereiche in einigen ihrer Filialen testen, und im letzten Jahr eröffnete in Köln der erste Unverpackt-Drogeriemarkt. Es regnet noch immer. Aber nun bei weitem nicht mehr so schlimm.

Dienstag, 16. März 2021

Mit der Kippe im Auto - Fossile Werbung, Feinstaub und der Marlboro-Mann

Fossile Werbung, Feinstaub und der Marlboro-Mann

Letzte Woche las ich, dass die schwedische Zeitung „Dagens Nyheter“ Anzeigen von fossilen Unternehmen einschränkt. Ich recherchierte und erfuhr, dass sich die britische „The Guardian“ schon im letzten Jahr dazu entschlossen hatte, und die ebenfalls schwedische Zeitung „Dagens ETC“ bereits im Jahr 2019. In deutschen Zeitschriften finde ich noch immer zweiseitige Anzeigen: Schwarzer Hintergrund, in der Mitte ein hochmotorisierter PS-Bolide in Silber-Metallic und an der Seite ein Spruch in weißen Lettern. Das reicht aus, um in mir den Wunsch zu wecken, auch ein paar Liter mehr an Kraftstoff, als die Vernunft mir raten würde, in die Atmosphäre zu blasen. Immerhin hat sich im letzten Monat eine Gruppe von Klimaktivist:innen und Organisationen vorgenommen, daran etwas zu ändern; wie die Reaktion der Medienhäuser ausfällt, kann man sicher bald auf fossilfreiemedien.de nachlesen. 
Bei anderen Dingen, die wir in die Luft blasen, herrschen bereits Werbeverbote. Ich erinnere mich gut an meine Kindheit im Kino. Da war der Marlboro-Cowboy allgegenwärtig. Alle meine Freunde wollten Cowboy werden. Erst seit 2002 durfte keine Tabakwerbung mehr vor 18:00 Uhr gezeigt werden. Da war es für uns schon zu spät. Wir wurden keine Cowboys. Wir wurden Raucher. Erst seit diesem Jahr ist Zigarettenwerbung im Kino nur noch für Filme ab 18 Jahren erlaubt. Eric Lawson, einer dieser Cowboys, half das nicht. Er starb 2014 an einer Raucherlunge. So wie hierzulande mehr als hunderttausend andere. Laut aktuellem Tabakatlas verstarben im Jahr 2018 127.000 Menschen an den Folgen des Rauchens. 

Und an dieser Stelle spanne ich den Bogen zur Werbung für Unternehmen, die direkt oder indirekt an fossilen Brennstoffen verdienen. Laut einer Studie des Max-Planck-Instituts für Chemie aus demselben Jahr kommen deutschlandweit rund 120.000 Menschen jährlich aufgrund von Feinstaub vorzeitig ums Leben. Über 40 Prozent des Feinstaubs entstehen im Verkehrssektor durch die Verbrennung und durch den Reifen-, Brems- und Asphaltabrieb. Nur zwei Prozentpunkte dieses Feinstaubs entstammen dem Schienenverkehr.

Was, wenn der Gesetzgeber bereits in meiner Kindheit erkannt hätte, dass einem Zwölfjährigen, der mit seinen Eltern im Kino „Falsches Spiel mit Roger Rabbit“ schaut, eine Prärie mit rauchenden Cowboys am Lagerfeuer zu zeigen, der Gesundheit nicht zuträglich ist? Was, wenn er damals auch erkannt hätte, dass die mit Autowerbung geweckten kindlichen Wünsche der Umwelt und der Gesundheit gleichermaßen nicht guttun? Man stelle sich vor, dass der Werbe-Cowboy Obst am Lagerfeuer gegessen hätte und der erfolgreiche Geschäftsmensch statt im Sportwagen in der Bahn seinen Armani-Anzug und seine Rolex präsentiert hätte.

Was könnten wir für eine Gegenwart haben? Eric Lawson würde heute in seinem achtzigsten Lebensjahr sein und die Geräusche, die er auf der Veranda seiner Ranch sitzend abgäbe, wären kein Lungenrasseln, sondern das Krachen beim Biss in einen Apfel. Es führen heute auch viel mehr Züge. In einem Youtube-Video zu einer Werbung für den BMW 316i aus dem Jahr 1988 schreibt der Nutzer Mike`s Modelshop: „Norbert Langer lieh in den 80ern seine Stimme der Marke BMW. Zugleich war er die Stimme von He-Man in den Europa Hörspielen von Masters of the Universe. Ich dachte mir damals als Kind, wenn He-Man BMW fährt mache ich das später auch! Ich fahre nun seit 21 Jahren BMW“ (sic!) Mike hätte heute eine Bahncard 100. 

So funktioniert Werbung und so denken Kinder. Jetzt muss nur es nur noch der Gesetzgeber.

Bildquelle: Cezary p at pl.wikipedia, CC BY-SA 3.0

Montag, 1. März 2021

Schwer zu verdauen - Die Krux mit der Mehrwertsteuer

Schwer zu verdauen - Die Krux mit der Mehrwertsteuer

Was ist der Unterschied zwischen Kartoffeln und Süßkartoffeln? Klar: Farbe, Größe, Geschmack, und auch botanisch gibt es Unterschiede. Ich präzisiere: Was ist der kulinarische Unterschied? Zumindest bei mir gibt es keine merklichen: Brat- und Backofenkartoffeln, Kartoffelstampf und -püree, Pommes Frites und natürlich gekocht. Beide sind in der Regel Beilagen und tatsächlich gut zu verdauen. Was ich als schlecht zu verdauen empfinde, ist, dass die Kartoffel, einst aus Südamerika zu uns gekommen, mit sieben Prozent besteuert wird und die Süßkartoffel, auch als Batate bekannt und ebenso aus Südamerika zu uns gekommen, mit 19 Prozent besteuert wird.

Dazu ein kleiner Steuerexkurs: Das Mehrwertsteuersystem, wie wir es kennen, gibt es seit 1968. Es löste das seit 1918 geltende Allphasen-Brutto-Umsatzsteuersystem ab. Das war zwar zuletzt mit nur vier Prozent bemessen, doch die galt für alle Phasen des Verkaufsprozesses vom Hersteller, über den Großhändler bis zum Händler, so dass der Endverbraucher alle Versteuerungsphasen indirekt mittrug - letztlich wird sie wohl faktisch eher bei sechs bis acht Prozent des Verbraucherpreises gelegen haben. Mit dem neuen Konzept führte der Gesetzgeber eine zehnprozentige Steuer mit Vorsteuerabzug für alle Ebenen ein. Das hätte jedoch den Endverbraucher und insbesondere finanziell weniger gut Gestellte benachteiligt, da ihnen der Vorsteuerabzug verwehrt ist. Also führte der Gesetzgeber den ermäßigten Steuersatz von damals fünf Prozent ein, der die Grundversorgung privilegierte. Warum wird also die Süßkartoffel mit 19 Prozent besteuert und nicht wie die Kartoffel mit sieben Prozent? Beide können doch unstrittig Teil der Grundversorgung sein. Ist es, weil die Kartoffel seit fast einem halben Jahrtausend hier heimisch ist und die Süßkartoffel ein Exot ist? Kennen Sie die Pitahaya? Weißes Fruchtfleisch, schmeckt etwas bananig und nach Vanille mit leicht nussigem Abgang? Dann vielleicht unter dem Namen Drachenfrucht? Dieser offensichtliche Exot wird mit dem ermäßigten Satz besteuert. Mit Exotentum hat es offenkundig nichts zu tun. 

Vielleicht, weil die Kartoffel hier mit einem Volumen von über zehn Millionen Tonnen geerntet wird und die deutsche Süßkartoffel mit nicht einmal einem halben Promille dessen ein Schattendasein fristet? Wohl kaum, denn Früchte wie Ananas und Papaya wachsen hier nicht einmal und werden dennoch ermäßigt besteuert. Dann vielleicht, weil die Süßkartoffel ein Luxusgut ist? Immerhin ist sie gut dreimal teurer als eine Kartoffel. Ich schätze, Sie kommen zum selben Schluss, wenn Sie jetzt lesen, dass der hundertmal teurere schwarze Trüffel mit sieben Prozent besteuert ist. Warum also? Ich ergänze ein paar weitere Fragen: Warum wird Kuhmilch mit sieben und Mandelmilch mit dem Regelsteuersatz belegt? Warum ist Ziegenkäse umsatzsteuerermäßigt und ein ebenso produzierter veganer Käse nicht? 

Die Antwort ist: Der Gesetzgeber braucht sehr lange, bis er erkennt, dass die Grundversorgung sich wandelt. Erst im letzten Jahr bemerkte er, dass es auch Frauen in Deutschland gibt und reduzierte die offensichtliche Grundversorgung mit Binden und Tampons auf sieben Prozent. Vielleicht erkennt er auch bald, dass es nicht wenige Menschen gibt, die sich gerne von mit veganem Käse überbackenen Süßkartoffeln grundversorgen, die ihren Kaffee mit Sojamilch trinken oder die ihre Trüffel über Süßkartoffelstampf geben wollen und es sich durch die überzogene Besteuerung der Letztgenannten kaum leisten können. Wird schon.

Bildrechte: CC BY-SA 4.0miya

Sonntag, 28. Februar 2021

Erde kauen - Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft?

Erde kauen - Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft?

Die Zeit, die ich im Moment zu Hause verbringen muss, führt dazu, dass ich mehr lese. All die Mitgliederzeitschriften von Greenpeace bis Vegetarierbund, die ich immer wieder versuche, auf elektronischen Abruf umstellen zu lassen und mir dann nach wenigen Monaten doch wieder postalisch zugesandt werden, zum Beispiel. Wenn man mich vor Corona gefragt hätte, was in der Natur Deutschlands rückläufig sei, hätte ich vermutlich sofort geantwortet: Die Bienenbestände. Eine von Greenpeace veröffentlichte Studie nennt sieben Insektizide, die neben der Varromilbe und Krankheiten dafür verantwortlich sind, dass inzwischen etwa die Hälfte unserer 560 Wildbienenarten auf der Roten Liste steht. Inzwischen fällt meine Antwort vielschichtiger aus. Auch rund 30 Prozent der Wildpflanzen in Deutschland sind gefährdet und weisen schwindende Bestände aufweisen. Das De
utsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung hat mehr als 2.000 Pflanzenarten untersucht und festgestellt, dass über 70 Prozent der Pflanzen seit den 1960er-Jahren um durchschnittlich 15 Prozent rückläufig sind. 

Leider ist auch nicht nur die Bienenzahl zurückgegangen, sondern binnen der letzten 30 Jahre 75 Prozent der gesamten Fluginsektenarten. Im letzten viertel Jahrhundert hat Deutschland 14 Millionen seiner Vögel eingebüßt. Die Bestände von Rebhuhn und Kiebitz sind seit 1992 um fast 90 Prozent gesunken, schreibt das Bundesamt für Naturschutz in seiner Publikation „Vögel in Deutschland - Übersichten zur Bestandssituation“. Immerhin in den Wäldern und in der Stadt hat sich der Bestand in den letzten zehn Jahren etwas erholen können – gut eineinhalb Millionen Waldvögel und eine halbe Million Vögel in Siedlungsbereichen kamen hinzu. Das hält den Rückgang jedoch nicht auf. 50 Prozent der bundesdeutschen Fläche sind Argrarflächen, die auch ein Grund dafür sind, weshalb der Feldhase inzwischen bundesweit als „gefährdet“ eingestuft wird und gleichfalls im Bestand sinkend ist. Das alles zeigt, dass ein Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft nötig ist. Der Staat muss ökologische Landwirtschaft viel stärker fördern, aber vor allem gemeinsam mit den Landwirt:innen eine Landwirtschaft entwickeln, die sich als Teil der Natur sieht und in den Erhalt natürlicher Lebensräume investiert. Im neuen Bodenreport hat das Bundesamtes für Naturschutz mitgeteilt, dass zahlreiche Arten von Bodenorganismen wie Würmer und Käfer vom Aussterben bedroht sind. Deren Vorschläge für eine zukünftige Landwirtschaft klingen einleuchtend: Bodenschonende Bearbeitungsmethoden, ganzjähriger Bewuchs mit heimischen Pflanzen, blühende und mehrjährige Pflanzen.

In der chinesischen Region Sichuan sind durch Pestizide keine relevanten Mengen an Insekten mehr gegeben, um Wirtschaftspflanzen zu bestäuben. Die Bestäubung der Obstbäume wird durch Menschen durchgeführt. Wenn auch die Vernichtung von Insekten im Boden so voranschreitet, sehe ich eine Zukunft vor uns, die auch deren Arbeit durch menschliche Arbeitskräfte ersetzt. Um für fruchtbaren humosen Boden zu sorgen, müssen wir dann unter Mindestlohn Erde zerkauen, damit etwas wachsen kann, während unsere Freunde über uns Blüten bepinseln, damit unsere Mühen auch Früchte tragen. Das schmeckt mir nicht. Ich nutze die erzwungene Zeit zu Hause weiter, um zu lesen – vielleicht findet sich ja noch etwas, das besser in die Zukunft blicken ließe. Luchs und Wolf sind zurück in Deutschland lese ich in der aktuellen Ausgabe von „Natur und Landschaft“. Vielleicht ist ja doch noch Hoffnung.

Bildrechte: CC BY-SA 4.0,  Gregor Rom, Extensive Landwirtschaft im Norden Benins bei Djougou, 5. März 2014

Sonntag, 3. Januar 2021

Wenn der Postmann zweimal mailt

Wenn der Postmann zweimal mailt

Das neue Jahr begann mit einem Impuls-Klick im Internet. Mein E-Mail-Provider machte mir ein Angebot der Post schmackhaft und ich konnte nicht widerstehen. Einen Tag später erhielt ich von der Post AG einen Brief zur Verifizierung: „Ihr Bestätigungscode für die Aktivierung der Briefankündigung im GMX Postfach“. In der beigefügten Broschüre las ich, dass mir nach der Freischaltung Briefpost vor Zustellung mit einem Foto per E-Mail angekündigt würde. Und zwar am Tag der Zustellung!

Die ausgeprägte sarkastische Ader in mir malte sich aus, wie dieser Service vor Erfindung der E-Mail im Jahr 1971 ausgesehen hätte. Ein klingelndes Telefon. „Guten Morgen, Herr Arnold! Bundesbeamte Müller hier. Wollte nur mitteilen, dass ich ihnen gerade einen Brief einwerfe. Er ist an sie adressiert.“ „An mich adressiert? In meinem Briefkasten? Vielen Dank!“ „Sehr gerne! Dieser Service ihrer Bundespost ist übrigens kostenlos!“ Nein, ist er leider nicht. Er kostet Energie. Das Internet verursacht bereits eine hohe CO2-Freisetzung. Eine E-Mail kann mit einem Verbrauch von ca. 10 Gramm pro Nachricht eingeschätzt werden. Das entspricht einer Stunde Licht mit einer Energiesparlampe. Ein Brief dahingehend kostet ca. 20 Gramm CO2 für Papier, Tinte, aber vor allem für den Transport. Wird er auch noch per E-Mail angekündigt, belastet er die Umwelt dreimal so stark wie eine E-Mail oder anders: Für dieselbe Belastung kann ich eine E-Mail versenden, die Antwort erhalten und eine Gegenantwort verschicken oder alternativ mir zwei Stunden Zeit für das Schreiben der Nachricht gönnen, während ich mich beleuchten lasse.

Warum finde ich die Briefankündigung so unsinnig? Zum einen, da sie nur maschinenlesbare Briefe und nur solche bis zu einer bestimmten Stärke umfasst. Wenn mir Großtante Gertrud also die Schenkung Ihres Vermögens auf mit Siegelwachs verschlossenem Büttenpapier in Sütterlin mitteilt, erfahre ich traurigerweise nicht schon morgens per E-Mail, dass ich gar nicht ins Büro hätte fahren müssen, weil ich reich bin, sondern erst abends, wenn ich den Briefkasten kontrolliert habe. Und darin liegt schon mein zweiter Kritikpunkt: Es wird zwar mitgeteilt, dass Post eingegangen ist, aber nicht ihr Inhalt. Das ist ein wenig wie morgens im Büro von meiner Partnerin eine Textnachricht zu bekommen, dass es abends eine Überraschung gibt. Bis ich zu Hause bin, weiß ich nicht, ob mich mein Lieblingsessen oder eine leere Wohnung erwartet. Etwas anderes ist da der e-Post-Service der Post AG. Da wird der Inhalt des Briefes elektronisch zur Verfügung gestellt, bevor er mir physisch in den Briefkasten geworfen wird, und zwar zum Zeitpunkt des Versandes. Das macht es energetisch nicht besser, verleiht jedoch immerhin Sinn. 17,4 Milliarden Briefe hat die Post-AG im letzten Jahr befördert. Dem gegenüber stehen gut 850 Milliarden E-Mails pro Jahr. Da brauchen wir nicht noch zusätzliche zum Brief. Aber wir könnten über 15 Tausend Tonnen CO2 einsparen, wenn nur noch E-Mails genutzt würden. Das ist immerhin der Klimagas-Jahresverbrauch eines mittleren Dorfes.

Was also tun? Ich habe inzwischen viele meiner Geschäftspostversender gebeten, ihre Schreiben per E-Mail oder über deren Serviceportale zuzustellen. Keine Briefpost, keine Vorankündigung, weniger Energieverbrauch. Wichtig ist jedoch, nicht benötigte E-Mails zu löschen, denn im Gegensatz zum zu Hause herumliegenden Brief, verbraucht auch deren Aufbewahrung Energie. Ob die Erbtante eine Tastatur auf Sütterlin zu Hause hat? Ich schreibe ihr.

Bildrechte: Unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung 2.0 generisch“ (US-amerikanisch) lizenziert. Chris Wightman - originally posted to Flickr as all's well that inks well