Kein Raum ohne Baum |
Dienstagabend. Vorsichtig luge ich zwischen den spärlich benadelten Ästen einer übersichtlichen Nordmanntanne hindurch. Mein Auto wartet mit laufendem Motor, die Fahrertür ist angelehnt. Ich erspähe die letzte Douglasie in dem durch mannshohe Bauzäune hermetisch abgeriegelten Areal. Sie steht einsam in der 30-Euro-Zone. Eine Königin unter den Jahresendzeitbäumen. Vorsichtig arbeite ich mich aus dem 10er-Gebiet in die bereits fast leergekaufte 20er-Zone. Mit konspirativem Vorgehen und taktischen Ablenkungsmanövern konnte ich meine Konkurrenten auf die falsche Fährte locken. Niemand ahnt, dass diese weihnachtliche Ode, geschrieben mit Harz statt Tinte, dort auf den von Santa Claus selbst Auserwählten wartet. Ein Geräusch lenkt meine Aufmerksamkeit nach links. Ich blicke direkt in die überraschten Augen einer Endzwanzigerin. Sie sieht sportlich aus. Sofort sprinte ich los. Fast zeitgleich springt sie hinter einer unansehnlichen Edeltanne hervor. Ich habe die Douglastanne fast erreicht, als sie meine Beine umklammert und mich zu Fall bringt. Schreckenserfüllt müssen wir zusehen, wie ein dritter Weihnachtsbauminteressent hinter einer wirklich mickrig wirkenden Fichte emporschnellt. Mit Triumph im hinterhältigen Antlitz eilt er schnurstracks auf dieses edelste aller Nadelhölzer zu. Eine Träne sammelt sich in meinem Auge, und die junge Frau hinter mir beginnt zu schluchzen. Doch dieses ruchlose Individuum, bar jeglichen Verständnisses für den Geist des Weihnachtsfestes, hat die Rechnung nicht mit dem Terminator unter den Baumkäufern gemacht. Mit tannengrün tarngefärbtem Gesicht materialisiert er sich wie aus dem Nichts direkt vor dem Baum. Kräftige Armbewegungen, allenthalben schemenhaft ob ihrer Schnelligkeit wahrnehmbar, stülpen dem sich als Käufer Wähnenden ein orangefarbenes Netz über, wie es gewöhnlich nur den Nadelbäumen selbst wiederfährt. Bewegungslos steht der bislang erfolgreichste unter uns Jägern des letztes wahren Baumes da. Nur das Zittern seines Brustkorbes verrät seine emotionale Aufgewühltheit. Geschultert zieht die 32-Euro-Douglasie an uns vorüber. Die Schulter schwebt einen Meter und achtzig über den Boden und das prall gefüllte Holzfällerhemd zwischen Schulter und Baum zeigt uns, dass der Kampf für dieses Jahr vorüber ist. Geschlagen befreien die junge Frau und ich den dritten Verlierer im Bunde aus dem Nylonnetz. Wir trösten einander Arm in Arm, als der Riese von einem Weihnachtbaumkäufer in seinem Pick-up von dannen zieht. Traurig winken wir der Douglasie hinterher. Sie hätte Besseres verdient. Wir drei verabschieden uns, danken für den fairen Kampf und verabreden uns für nächstes Jahr zur gleichen Zeit am selben Ort. Ich packe meine Blaufichte zu zehn Euro ins Auto. Immerhin riecht sie gut, ist das letzte, was ich denke, bevor ich mit dem eingebildeten Geruch von Tannennadeln in der Nase erwache. Es ist Dienstagmorgen, und ich habe noch zwölf Stunden Zeit.
Tatsächlich war auch das Erwachen Fiktion. Ich habe gar keinen Weihnachtsbaum. Meine Weihnachtsschmucklosigkeit habe ich aus meinem Elternhaus geerbt. Mein Vater schmückt seit Jahren seine Stechpalme mit einer Lichterkette, und fertig ist der „Weihnachtsbaum“. Nicht schlimm, denn ich habe ja die Weihnachtsbeleuchtung meiner Friedberger Kaiserstraße vor dem Fenster, und außerdem sind mir Bäume sehr viel lieber, wenn sie im Boden stecken. Dieses Jahr hole ich mir dennoch einen, einen der stehen bleibt. Die Weihnachtsbaumspende von bergwaldprojekt.de ist eine tolle Idee.
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