Freitag, 16. Dezember 2011

Dialoge IV - Über Perspektiven

„Weihnachten ist wirklich herrlich“, sagte Frank und aß ein weiteres Vanillekipferl. „Magst du auch eins, Michael?“ 
Sein Arbeitskollege Michael schüttelte den Kopf. 
„Sag mal, passt deine Uniformhose eigentlich noch, so wie du in den letzten Wochen zugelegt hast?“
Frank schaute an sich herunter, doch nur aus Reflex, denn er sah seine Hose schon seit Wochen nur noch, wenn sie im Schrank hing. 
„Hmmm!“, antwortete er und umfasste seine Körpermitte mit den Händen. „Seit ich meinen Bauch über der Hose trage, geht es eigentlich.“
„Das ist ne ganz schöne Kugel, die du da inzwischen hast.“ 
„Ja, ich weiß, ich will mir ja auch einen lang ersehnten Kindheitstraum erfüllen.“ 
„Was für ein Kindheitstraum?“ 
„Nun“, sagte Frank, „ich möchte mir eine Schneekugel auf den Bauch tätowieren lassen. So eine Nordpol-Eiswelt mit dem Weihnachtsmann, seinen Elfen und rieselndem Schnee und so. Bald reicht die Fläche auch für ein Rudel Rentiere nebst Schlitten.“ 
Michael schüttelte den Kopf, und Frank aß Frankfurter Bethmännchen im Takt seines Kopfschüttelns. 
„Eines Tages wirst du nur noch sitzen können, weil du zu behäbig bist, um dich zu bewegen.“ 
Michael stoppte sein Kopfschütteln, und Frank ging zu Butter-Spekulatius über, als sich die Tür öffnete und der Kaufhauschef den Aufenthaltsraum betrat. 
„Los, raus mit euch. Die ersten Kinder stehen schon am Weihnachtsstand.“ 
Frank zog seinen weißen Umhänge-Rauschebart über sein Kinn, erhob sich behäbig und eilte mit einem freudigen Strahlen an Herrn Müller vorbei in Richtung der lachenden Kinder. 
„Chef, kann ich diese Saison auch mal den Weihnachtsmann geben?“, fragte Michael, doch Herr Müller schüttelte nur den Kopf und meinte etwas von falschen Proportionen, zu agil und überhaupt geradezu für Knecht Ruprecht prädestiniert. 
Derweil hörte sich Frank bereits den ersten Kinderwunsch an, dessen Äußerer auf seinen weich-gemütlichen Schenkeln saß, und genoss das satte Finale der gustatorischen Symphonie, zu der das Butteraroma und die Gewürze der Spekulatius gerade an seinem Gaumen aufspielten. Er verstand was von seinem Job.

6 Kommentare:

  1. Der dicke Bauch ist sozusagen Franks Kernkompetenz!

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  2. Beneidenswert. Ein Modell-Weihnachtsmann. Jemand der jedoch nicht nur aufgrund seiner Äußerlichkeit, sondern auch seiner inneren Werte geschätzt wird: Seiner Behäbigkeit. Beneidenswert, wie schon eingangs erwähnt.

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  3. Schöner Kontrast, die beiden Sichtweisen =)

    Ich wünsche frohe Weihnachtstage und viel Inspiration und Glück, für alles, was du dir vornimmst.

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  4. Das wünsche ich dir auch, liebe Citara, und dir, guter mkh, und Ihnen, werte Frau Meise, und allen anderen auch, doch euch besonders :-)
    Lasst es euch gut gehen ...

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  5. Vielen lieben Dank, werter Lichtträger! Ich habe es mir gutgehen lassen, wie gewünscht. ;)
    Ihnen wünsche ich dafür nun einen geradezu hervorragenden und prächtigen Übergang ins Neue Jahr.

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  6. Dasselbe Ihnen, werte Frau Meise, und natürlich auch Citara und mkh einen prachtvollen Wechsel in das Endjahr des Maya-Kalenders. Ein Völkchen mit zu viel kalendarischer Perspektive, bedenkt man die kurze vitale Perspektive, die ihnen gegönnt war. Unsere Völkchen existieren noch, obwohl unsere Kalender jährlich enden ...

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