Langsam erwachte der Morgen. Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch das kleine Fenster in die Kellerwohnung ein, die Magnus schon seit nunmehr sieben Jahren bewohnte. Magnus saß noch immer im Schneidersitz auf seinem Bett. Der heller werdende Tag ließ ihn die Augen langsam öffnen. Er blickte sich um. Die Spuren des kurzen und ungleichen Kampfes in der im Sterben begriffenen Nacht waren vollständig beseitigt.
Die Aasfresser und Destruenten, die Magnus ihre Beseitigungsarbeit erledigen ließ, hatten sauber gearbeitet. Nicht einmal Flecken waren auf dem Teppich geblieben. Magnus hatte einen merkwürdigen Geschmack im Mund. Er spürte zwei Stunden lang nicht nur die Gefühle der anwesenden Tiere, sondern auch das, was sie schmeckten. Eine Erfahrung, auf die er gerne verzichtet hätte. Angebranntes Menschenfleisch ist selbst für Raben und Ratten kein großer Genuss.
Geschlafen hatte Magnus nicht. Sein Geist war ruhelos. Er konnte nicht nachvollziehen, was mit ihm geschah. Noch vor wenigen Wochen war er ein harmloser Stufe-eins-Begabter. Dann erspürte er plötzlich auch die Gefühle von Menschen, bald auch deren Gedanken. Er begann sie einem Hörbuch gleich zu lesen. Ein Hörbuch, in dem er bald beliebig vor- und zurückspulen können sollte, dessen Kapitel er beliebig auswählen können sollte. Dann bemerkte er, dass er manchen Menschen seine eigenen Gedanken als die ihren unterzuschieben vermochte, was bei i h n e n nicht unbemerkt blieb.
Er wurde vor den Großen Rat geladen. Sie klassifizierten ihn neu, ermahnten ihn, nicht in die Freiheit der Menschen einzugreifen, indem er sie lenkte. Magnus hatte i h n e n zugestimmt, doch erlag immer wieder der Versuchung. Hier ein Hütchenspieler, den er ausnahm, dort sein Chef, dem er seine schon lange verdiente Gehaltserhöhung in den Kopf legte und dann und wann ein Yuppie, den er den Inhalt seiner Brieftasche in den Hut eines Bettlers legen ließ. S i e beobachteten ihn, ermahnten ihn immer wieder, bis er vor zwei Wochen im Park überfallen wurde.
Magnus’ Heimweg von der U-Bahn, die ihn von seiner Arbeitsstelle nach Hause brachte, führte ihn durch einen kleinen städtischen Park. Jeder wusste, dass sich im Park viele Fixer ihren Schuss setzten, aggressiv bettelten und dann und wann auch andere Wege suchten, um an das Geld für den nächsten Schuss zu kommen. Im Park waren sie vor der Polizei sicher, die es schon lange aufgegeben hatte, sich des Problems anzunehmen. Die vielen Bürgerversammlungen kamen stets zum gleichen Ergebnis: Die anwesenden Vertreter der Polizei verwiesen auf die Straffreiheit des Konsums und darauf, dass es ein gesellschaftliches Problem sei, das die Politik zu lösen habe, und die Politik verwies auf leere Kassen und dass man mit Druckräumen und Streetworkern bereits auf dem richtigen Weg sei. Dann wurden stets Statistiken vorgelegt, dass die Zahl der Raubüberfälle im Park weit unter dem Schnitt läge. Freilich vergaß man dabei gerne, dass die meisten Überfälle zwischen Junkies stattfanden, die keine Anzeige erstatteten.
Magnus hatte an diesem späten Abend wieder einmal Überstunden gemacht, während sein Chef schon zuhause war, und seine Beine sicherlich vor dem Kamin schon ausgestreckt hatte. Sie waren zu zweit, und Magnus hatte es nicht kommen sehen, obwohl er sonst immer nahezu schon automatisch Gedankenfetzen der Menschen um ihn herum aufschnappte. Sie hatten sich hinter einem verwucherten Busch versteckt, der vor Jahren die Parkbank dahinter idyllisch gesäumt haben mag. Bevor Magnus sich umdrehen konnte, hatte ihn der Größere der beiden bereits mit einem schweren Ast niedergestreckt.
„Los, such seinen Geldbeutel!“ schrie er seinen Kompagnon an. „Im Anzug! Im Anzug!“
Magnus blutete am Kopf. Das Blut floss ihm über die Stirn, in die Augen und troff auf seinen grauen Anzug und färbte sein weißes Hemd rot ein. Er lag benommen auf dem Boden, während der Kleinere auf Magnus’ Bauch saß und seine Brieftasche grob aus der Innentasche seines Jacketts riss. Sie stritten sich um das Geld. Ihre Gesichter waren zu Fratzen verzerrt.
„Gib mir das Geld!“, sagte der Kleinere. „Du hattest das letzte Mal schon so einen großen Batzen bekommen.“
„Nein, ich habe den Typen gesehen. Ohne mich hättest du gar nix!“, raunte der zurück.
Sie rangen um das Portemonnaie und beschimpften sich dabei. Der Größere gewann die Oberhand und steckte die Brieftasche ein. Der Blick des Kleineren fiel auf den Goldring an Magnus’ Hand. Er klappte ein dreckiges Messer auf und stürzte auf Magnus zu. Panik erfasste ihn. Er bekam den Geist des Großen zu fassen. Der Große holte mit seinem Ast aus und traf den Kleinen schmerzhaft an der Schulter. Der Kleine stach ihm in den Bauch, woraufhin er sich krümmend und taumelnd in den dunklen Park zurückzog. Der Kleine wurde panisch. Er hatte die Kontrolle über seinen Körper verloren. Magnus hatte sie. Sie schauten einander in die Augen. Magnus war wütend. Er hatte Schmerzen. Sein Anzug war ruiniert. Er ließ den Kleinen sich sein eigenes Messer in den Bauch rammen. In der Zeitung war später nichts über Verletzte oder gar Tote zu lesen. Auch Magnus war nicht bei der Polizei. Doch unter den Begabten blieb es nicht unentdeckt. S i e handelnden.
Einige Tage nach dem Vorfall wurde Magnus wieder vor den Großen Rat geladen. Wie auch die letzten Male saß er auf einem einzelnen Stuhl im Ratsgerichtssraum. Der Stuhl, auf dem die abzuurteilenden Begabten zu sitzen hatten, war umkreist von einem riesigen massiven Holztisch aus dunklem, nahezu schwarzem Holz, an denen die 13 Weisen des Rates saßen. Hinter den 13, an ebenso dunkel vertäfelten Holzwänden hängend, blickten Ölgemälde der 13 Vorgänger der heutigen Weisen grimmig auf Magnus herab. Und grimmig waren sie gewiss, denn die meisten von ihnen starben, um ihren Platz im Großen Rat einem mächtigeren Begabten freizumachen.
Aleister Wehrmann, der langjährige Ratsmeister, dessen Ölgemälde im Rücken das mit großem Abstand älteste war, hatte ihn angeschrien. Er war außer sich gewesen.
„Vates, was haben Sie sich dabei gedacht. Sie können nicht einfach Menschen angreifen, wie es Ihnen passt. Der Rat hat sie gewarnt. Mehrfach. Wenn die Menschen von unseren Fähigkeiten Kenntnis erlangen, wird es wieder Hexenverfolgungen geben. Wir würden in die Barbarei fallen. Die Menschen würden versuchen, uns wenige Begabte wieder einmal auszurotten. Reißen Sie sich zusammen. Werden Sie keine Gefahr für die Begabten. Das ist die letzte Warnung für Sie. Die Allerletzte, Vates. Kriegen Sie das endlich in Ihren Kopf, Vates.“
Magnus hatte zu erklären versucht, dass es Notwehr war, dass er die Kontrolle kurz verloren hatte, dass er das alles nicht gewollt hatte, doch Wehrmann, ein groß gewachsener alter Mann mit kurz geschorenem grauem Haar und grauem ebenso kurz getrimmten Vollbart, war einfach nur aufgesprungen, so dass sein schwerer Stuhl mit einem lauten Schlag umgefallen war. Er hatte seine rechte Hand ausgestreckt und vor Wut zitternd Magnus entgegen gestreckt. Magnus bekam keine Luft mehr. Sein ganzer Körper schien zusammen gepresst zu werden, während er mit samt seines Stuhles in die Luft gehoben wurde, ohne dass ihn jemand berührte. Die Gabe der Levitation beherrschten nur wenige Begabte. Mindestens auf zehn waren solche Begabte eingestuft, und von denen gab es nur wenige. Im Rat jedoch gab es keinen Begabten der geringer eingestuft gewesen wäre. Und während eine Litanei von Beschimpfungen und Drohungen auf Magnus niederging, und er um Atemluft rang, bemerkte Magnus, dass er die Gefühle einiger Ratmitglieder spüren konnte. Sie hatten Angst.
Magnus stand von seinem Bett auf und ging barfüßig in die Küche. Er nahm eine Flasche Orangensaft aus dem Kühlschrank und trank in großen Schlucken. Er wollte den üblen Geschmack aus seinem Mund vertreiben, von dem er freilich wusste, dass er nur eine Empfindung der Tiere war, die er gesteuert hatte. Doch würde ihm der süße Saft helfen, seinen eigenen Geschmackssinn zu überzeugen, dass dem so war. Über ihm hörte er die Schritte der alten Frau Hansen. Magnus zog eine beige Kord-Hose an und ein frisches weißes Hemd über das Unterhemd, das er bereits in der Nacht getragen hatte. Er schlupfte in seine Sandalen. Er würde jetzt rasch zum Bäcker gehen, um wie jeden Samstagmorgen gemeinsam mit seiner Vermieterin zu frühstücken. Frau Hansen freute sich schon darauf. Sie hatte Hunger und mochte ihm von ihrem Traum der letzten Nacht erzählen. Das wusste Magnus bereits, und er wusste auch, dass er darin vorgekommen war. Und jede Menge Tiere.
Kapitel IV | Fotsetzung folgt
Uh! Magnus Vates! Juhuuu!
AntwortenLöschenLeider kann ich es noch nicht lesen. Morgen aber. Freu mich schon. :)
Nun sag mir noch einer was gegen die Kraft der Gedanken!Fragt sich jetzt bloß noch, wen oder was der olle MV denn nun verbrennen und von wilden Tieren verköstigen ließ. Sämtliche Ratsmitglieder etwa? Das wäre ja ... hm, frech!
AntwortenLöschenSicherheitsabfrage: micat
Dann lesen Sie mal, liebe Frau Meise, lesen Sie. Aber lesen Sie bitte auch die Kapitel zuvor, sonst passiert es Ihnen wie dem gutem mkh, dass Sie nicht mehr erinnerlich haben, was zuvor passiert war und sich die Frage stellen, wen oder was Magnus dort von seinen Destruenten beseitigen ließ ;-)
AntwortenLöschenIst ja auch schon drei Jahre her :-)
Okay, ich werde also in den Archiven schnüffeln! ;-)
AntwortenLöschenWo ich doch extra alle Kapitel am Ende miteinander verlinkt und heute sogar noch drei Jahre alte Zeichensetzungsfehler korrigiert hatte ;-)
AntwortenLöschenJawoll! Getan.
AntwortenLöschenUnd es war tatsächlich nötig, hatte ich doch tatsächlich nur noch die U-Bahn-Szene im Kopf und dass der gute Magnus Besuch bekommen sollte. Dä. Gut, dass mkh vor mir in dieses Fettnäpfchen hineinging. ;)
Die Fortsetzung gefällt mir ausnehmend gut, aber jetzt will ich - klar - wieder einmal wissen, wie es weitgeht. Hach. Bitte, wann gibt's die Fortsetzung? Nicht in drei Jahren, bittebitte.
Nein, in drei Jahren gewiss nicht. September strebe ich an ;-)
AntwortenLöschenDas "ausnehmend gut" gefällt mir im Übrigen ausnehmend gut. Danke :-))