Dienstag, 9. Mai 2017
Mach dich mal sauber, Mann!
Das sagte ich zum Glück zu mir selbst. Ich musste von niemandem hören: „Ach, der riecht immer ein Bisschen! Ist ja so ein Öko!“. Immerhin steckt in meinem selbstgemachten Deo wohlriechendes Kokosfett. Olfaktorisch nimmt man mich daher eher wie eine riesige Kokosmakrone wahr und weniger so, dass man sich zu einem solchen Satz hingerissen fühlte. Als ich es so dahin sagte, ging es mir tatsächlich eher um innere Hygiene, darum all die Routinen, die ich im Laufe der Jahre angesammelt habe, dahingehend zu überprüfen, ob ich meine Zeit nicht sinnvoller verbringen kann. Minimalismus ist nicht nur das bewusste Reduzieren von Besitz und die Etablierung eines kritischen Konsums, es ist vor allem der Wunsch durch Vereinfachung und durch den Ausbruch aus dem Hamsterrad der Routine mehr bewusst erlebte, bereichernde Lebenszeit zu gewinnen. Bevor ich zu meinem eigenen Hamsterrad komme, muss ich anmerken, dass ich eine hohe Affinität zu Microsofts Excel habe, und von lückenlos geführten Grafiken ein erotischer Reiz für mich ausgeht. Es verwundert also nicht, dass ich eine seit neun Jahren geführte Tabelle habe, in der ich mein sonntäglich gemessenes Körpergewicht und meinen Körperfettgehalt aufzeichne. Das ergibt einen tollen Graphen. Hoch und runter geht er zwischen 80 und 100 Kilo. Hui, wie prickelnd! Warum mache ich das eigentlich nochmal? Nach einigem Grübeln: Im Jahr 2008 hatte ich wieder mit Muskelaufbautraining begonnen. Die Tabelle diente der Überprüfung, ob ich mit Training und Ernährung auf dem richtigen Weg bin. 2011 hatte ich meine Ziele geändert und wollte Langstreckenläufer werden. Inzwischen geht es mir mit Calisthenics um Kraft statt Masse. Die Tabelle ist also längst nicht mehr nötig. Ich führe sie dennoch. Und weshalb? Uns allen wohnt vermutlich ein Bedürfnis nach Kontinuität und Harmonie inne. Zumindest für mich war es schwer, diese Jahre lang lückenlos geführte Aufzeichnung enden zu lassen. Also führte ich sie weiter, ohne dass es den eigentlichen Grund noch gab. Letzte Woche habe ich mich überwunden: Die Tabelle wird nicht mehr weitergeführt. Meine Waage und mein Körperfettmessgerät habe ich sicherheitshalber verschenkt. Es hat lange gebraucht, das festzustellen, aber ich brauche kein Messgerät, das mir sagt, ob ich gesund bin. Das fühle ich. Ich brauche auch keine Waage, die mir sagt, ob ich mich innerhalb oder außerhalb der Norm befinde. Da reicht ein Spiegel, und ob ich an dem, was der Spiegel mir zeigt, etwas ändern sollte, das beantworten mir am besten Menschen, denen ich am Herzen liege. „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, schrieb Antoine de Saint-Exupéry in „Der kleine Prinz“, und damit hat er sehr recht. Lieber mehr Zeit mit Freunden verbringen, für die ich gut bin, so wie ich bin, als mit dem Befüllen von Exceltabellen mit Messwerten, die mir sagen, wie weit ich vom optimalen BMI, HWR, FFMI oder Normgewicht entfernt bin. Das ist es, was ich mit innerer Hygiene meine. Ich bin froh über diesen Schritt. Gelöscht habe ich die Tabelle noch nicht. Das wäre zu emotional, aber solch unsinnige Aufzeichnungen habe ich zum Glück nicht ohnehin nicht mehr. Jedenfalls wenn man von der Tabelle mit den monatlichen Kontoständen seit 2008 absieht, von der mit dem Verbrauch meines Autos seit 2010, der mit den Laufstrecken, Zeiten und Pulswerten seit 2011, der mit meinem monatlichen Stromverbrauch seit 2013, der mit meiner Kraftentwicklung seit 2015 … ich bin ein Hamster!
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