Samstag, 17. Dezember 2011

Slam Gießen, JOKUS, Gießen (14.12.2011)

Stimmungsvolles JOKUS
Es war ein regnerischer und kalter Mittwochabend; geradezu prädestiniert, ihn innerhalb geschlossener Wände zu verbringen. Die Wände meiner Wahl umgaben das JOKUS in Gießen, denn der wunderbare Lars Ruppel hatte zu einem Poetry Slam eingeladen. Also nicht mich. Ich musste mich selbst einladen, doch ich folgte meiner Einladung nur allzu gerne. Um kurz nach sieben kam ich an und bekam einen der letzten Parkplätze auf dem Gelände. Wenigstens kein Parkhaus, doch nicht minder viele Überraschungen bergend. Die Überraschung dieses Parkplatzes beschränkte sich auf seine bloße Unbelegtheit, denn die Schlange vor dem Jokus war wirklich groß und stand sich die Beine in den Bauch, was für eine Schlange gleichfalls überraschend sein sollte.
Bleu gekühlt

Carsten Nagels und Mounir Jaber, auf die ich mich wieder hinter und auf der Bühne gefreut hatte, erwarteten mich sogleich dort, wo es auch mich hinzog: An der Theke, denn kostenlose Brause ist schon toll. Der Backstagebereich erwies sich als überraschend leer, erwies sich jedoch auch rasch, gar nicht selbiger gewesen zu sein, denn tatsächlich befand er sich hinter der Theke. Eigentlich wenig überraschend. Ebendort befanden sich unter anderen Bleu Broode und Danny Sherrard. Danny war im Jahr 2007 der jüngste Poet, der je den Individual National Poetry Slam in den USA gewann. Und ein Jahr später durfte er bereits den Poetry World Cup für sich entscheiden, was das gleiche Jahr war, in dem Bleu den U20-Titel bei den deutschsprachigen Nationals in Zürich gewann. Beide Bühnengrößen erwiesen sich in natura als recht klein, weshalb sie auch zusammen in den Kühlschrank passten.

Lars mit Lehrerin (angehend)
Neben Larse sollte Stefan Dörsing mitmoderieren, der jedoch verschollen blieb, so dass sich Lars eine Comoderator aus dem Publikum suchen musste. Da es weder Geburtstagskinder, FDP-Wähler, noch Guatemala-Reisende gab, die in die Falle getappt wären, sich zu melden, versuchte es Lars erfolgreich mit der Frage nach Mathestudentinnen und –studenten. Eine war so leichtsinnig die gehobene Hand nicht schnell genug wieder zu senken und war damit ausgewählt. Trotz Studiums auf Lehramt war Ellen eine sehr hilfreiche rechte Hand Lars’, auch wenn sie sich später einmal verrechnen sollte, doch sie wollte ohnehin die Richtung Förderschule einschlagen, so dass ausreichend Nachsicht gegeben war. Pointenreich eröffnete Lars meinen ersten Poetry Slam im Jokus.
Danny trat als featured artist auf und begeisterte das Publikum mit einem grandiosen Text. Das Opferlamm spielte Lars selbst: „Ich bin schön!“, und das waren die Vorträge von Danny und Lars sehr wohl, weshalb ich befürchtete, dass das die Meßlatte recht hoch legen würde. Doch es sollte anders kommen.

Luise Lohmeyer
Den Auftakt des Wettbewerbs machte Luise Lohmeyer, die ich ebenso wie später Mounir Jaber, heute das dritte mal erleben sollte. Sie brachte ihren mir bekannten Text über das taube Mädchen auf dem Dach der Welt - wie immer sicher und frei vorgetragen – und erhielt 45 Punkte vom Publikum (inkl. Pelzpunkt als erster von elf Extrapunkt-Vertretern der Veranstaltung).
Als zweites kam Lena Homs auf die Bühne, die ich von meinem zweiten Auftritt in Friedberg schon kannte, jedoch von ihr etwas früher erkannt wurde, als wir im Backstagebereich, der keiner war, aufeinandertrafen. Sie trug einen englischsprachigen Text über Missbrauch vor, der wirklich unter die Haut ging, weshalb sie inklusive Gänsehautpunkt auch 47 Punkte vom Publikum erhielt.
Als drittes kam Mounir an die Reihe und focht erneut seinen Kampf gegen den Mainstream. Auch beim zweiten mal Hören macht dieser Text unheimlich viel Spaß. Mounir sagte später er habe viele Fehler gemacht und sich oft versprochen, was ich gar nicht so registriert hatte, er jedoch für seine 39 Punkte verantwortlich machte. Sein Extrapunkt war der Sockenpunkt. Warum, weiß keiner, denn im Gegensatz zu Lars trug Mounir seine Schuhe noch und hatte im Gegensatz zu Lars zwei passende Socken an, wie ich zumindest vermutet hatte.
Tobias Heyl
Der vierte Kandidat war Tobias Heyl, der einen richtig guten und wiederum sehr lyrischen Text über sein Verlassen der sozialen Sicherheit vortrug. Auch Tobias erhielt starke 45 Punkte. So viel zum Thema hohe Messlatte.
Thomas aus Gießen, der erst kurz zuvor das erste Mal im Giessener Uhlenspiegel auf der Lesebühne stand, wurde als Nächster von Lars - überraschend - auf die Bühne geholt. Er wollte eigentlich nur Zuschauer sein und hatte auch keinen Text mit. Letztlich trug er ein langes Gedicht, das als Kindermärchen gedacht war, auswendig vor. Mir persönlich war es ein wenig zu offensichtlich und appellativ, aber es war ja auch für ein Publikum im Kindesalter gedacht, dem ich ja offenkundig auch schon mit am längsten unter allen Teilnehmern und auch dem Publikum entwachsen war. Die 42 Punkte inklusive des zugeworfenen Paradiespunktes, denn um selbiges drehte sich das Gedicht, empfand ich dennoch als faires Votum.
Bleau Broode
Als letzter Kandidat vor der Pause nahm sich Bleau das Mikro. Er startete, indem er seine drei Gedichte, die er vortragen wolle, als eine Mischung aus Heinz Erhards und [hier bitte Namen des Lyrikers einsetzen, der mir in den zwei Tagen leider entfallen war] Werken darstellte, während seine jedoch viel besser seien. In dem Moment dachte ich mir, das könnte schief gehen. Hybris ist eine mehrköpfige Schlange*. Bleau, bei dem ich aus unerfindlichen Gründen beharrlich das „l“ wegließ, wenn ich ihn ansprach, brachte drei wirklich kurze Gedichte. Alles in allem vielleicht gefühlte eineinhalb Minuten. Den Rest seiner sechs Minuten Bühnenzeit füllte er mit An-, Zwischen- und Abmoderation seiner selbst und seiner Werke. Unglaublich, aber es funktionierte. Es funktionierte sogar sehr gut, zumal seine Gedichte sehr vielseitig waren. Es funktionierte so gut, dass er 51 von 50 möglichen Punkten erhielt. Der 51, der Liebeselfchen-Punkt, hätte passender kaum benannt werden können. Damit stand der erste Finalist fest, und Lars läutete zur Pause ein.

Lukas Andratschek
Den Ersten der zweiten Vorrunde machte Lukas Andratschek, der an diesem Abend seinen ersten Poetry Slam bestritt. Er brachte zwei kurze Gedichte, wobei der Zufall überraschend sein scharfes Schwert zog und kurzerhand auf den Inhalt eines zuvor gehörten Gedichtes eindrosch. Lukas’ zweites Gedicht bezog sich darauf, dass er es das lyrische Ich (oder auch er selbst – wer kann das schon sagen) hasse, wenn die Menschheit als böse und skrupellos dargestellt würde, was Thomas zuvor mit seinem Kindergedicht getan hatte. Das war sicher nicht geplant, schuf aber eine thematische Brücke zur ersten Vorrunde, wenn auch eine, die aus tiefschwarzen Holzplanken bestand. 43 Punkte war es dem Publikum wert.
Marvin Ruppert, der neben den anderen verbliebenen Teilnehmern und mir im Gang und in den Startlöchern stand, sollte als nächstes dran sein. „Sternenhimmel?“, fragte ich. „Ich denke schon!“, sagte er und ging mit extrem kurzen Haaren aber einem Text, auf den ich mich riesig freute, auf die Bühne.
Marvin Ruppert
Irgendwann zwischen Marburg und Gießen musste er ein gefühltes Kilogramm Haare verloren haben. Ich hoffte auf einen vorangegangenen Unfall, denn Männer meines spärlichen Haarwuchses haben wenig Verständnis für Friseurbesuche von Menschen mit vollem Haar. Jedenfalls sahnte Marvin wie auch schon zuvor in Marburg ab und kassierte die zweite Höchstwertung von 51 Punkten inklusive eines Extrapunktes, dessen Namen so lang wurde, dass ich ihn mir nicht merken konnte. Ich bin mir aber sicher, es kamen die Worte Schildkröte, „I’ve been lokking vor Freedom und irgendwas mit Sternen vor, vielleicht auch was mit Haaren, aber mit letztem bin ich etwas im Ungewissen. Jedenfalls war mit diesem Auftritt klar, welche zwei Poeten das Finale bestreiten würden.
Dann wurde Carsten auf die Bühne gerufen und wählte als einziger den Weg über die Treppe „Sidestage“, womit er die ersten Lacher und Publikumssympathien schon gewonnen hatte. Seine Aphorismen, darunter ein neuer, trug er in neuer Zusammenstellung souveräner vor, als ich sie je zuvor von ihm gehört hatte. Zusammen mit den Pinocchio-Punkt wurden es 44 Punkte, darunter Carstens erste Zehn. Sehr gut.
Lukas Bayer
Als Vorletzter startete Nils Bayer, der ebenfalls erst ganz frisch auf der Bühne war und, wie er mir im Gespräch vor dem Auftritt sagte, noch unsicher sei, ob der Poetry Slam die richtige Bühne für seine Gedichte sei. Wir führten ein solides Grundsatzgespräch zum Thema bei einer kühlen Afri-Kola und daher war ich auch gespannt, wie er auf der Bühne sein würde. Sein Text über die Epiphem-Generation kam an und brache 44 Punkte, und ich weiß noch immer nicht was epiphem bedeutet. epi = über, pheme=gerücht; eine Übergerücht-Abstammungslinie? Ich hätte doch damals Griechisch statt Haushaltskunde wählen sollen. Jedenfalls war sich Nils auch danach noch nicht sicherer, ob es das richtige Medium sei, doch 43 Punkte sind ein gutes Argument und ich hoffe, man sieht sich noch mal auf einer Bühne.
D'Artagnan d. J.
Tja, und wie die eine oder andere LeserIn bereits vermutet haben mag, war ich der letzte Teilnehmer der Runde, und da ich spätestens mit dieser Veranstaltung und dessen früher Finalentscheidung das Motto „The point is not the points, the point is the poetry“ (Allan Wolf) verinnerlicht hatte, betrat ich ganz entspannt auf die Bühne, flachste etwas mit dem Publikum, wobei ich feststellen musste, dass Witze über das eigene Alter richtig gut kommen, wenn man im oberen Viertel des Alters der Anwesenden rangiert, und trug meinen Absinth-Text, wie ich denke, inzwischen recht routiniert, aber lebendig vor. Ich wurde mit einem Absinthfahrkartenkontrollpunkt geehrt, der auf 44 Punkte aufsummierte. Publikum zum Lachen gebracht, Applaus geernet, Poet glücklich.

Fraternisierte Finalisten feiern
Das Finale wurde durch Bleu gestartet, der mit einer Teilbeleidigung des Publikums begann und einen Text gegen jene darunter ans Mikro brachte, die ein Auslandsjahr eingelegt hatten, um Erfahrungen zu sammeln. „Er stirbt seinen Traum“ war ein Zitat, dass sich eingeprägt hatte. Ja, nicht jede Auslandsreise ist ungefährlich.
Marvin konterte mit seiner Geschichte über Silvester und wusste das Publikum knapp damit zu überzeugen. Marvin wurde nach uneindeutigem Applausentscheid und um so eindeutigerem Handzeichenentscheid zum Sieger des Abends bestimmt. Als Trophäe gab es auf Lars’ Aufforderung einen wahren Hagel dessen, was die Zuschauer in ihren Taschen hatten und entbehren konnten. Am besten kam der Hello-Kitty-Schminkspiegel an, denke ich. Ganz großes Kino. So einen will ich auch mal. Gießen – ich komme wieder!


* Natürlich ist es die Hydra, aber die passt nun mal nicht in den Kontext

Und zum Abschluss Danny und Lars im optischen Vergleich:



2 Kommentare:

  1. Wie immer gerne gelesen!

    Und oh weh: Mit 46 wäre ich ja dann der Greis (oder senior consultant?) in diesen illustren Runden ... ;-)

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  2. Bei meinem zweiten Slam hatte ich einen 57er auf der Bühne. Kein Problem also. Die Poesie kennt kein Alter, nur schöne Worte ;-)

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