„Oh, Mama!“, sagte Michael, der ungeduldig schon in der Tür stand.
„Jetzt halt still!“
Sie wischte ihm die letzten Reste des Mittagessens aus den Mundwinkeln und wuschelte ihm zum Abschied durch die Haare.
„Aber wenn die Laternen angehen, bist du wieder zuhause!“, rief ihm seine Mutter hinterher.
Michael hob die Hand und rannte weiter. Am Ende der Straße schwenkte er in die Hofeinfahrt von Andis Elternhaus.
„Ist Andi schon mit den Hausaufgaben fertig?“
„Hallo, Micha. Warte! Ich rufe ihn“, sagte seine Mutter. „Andi! Micha ist da!“
Sie wandte sich wieder zu ihm.
„Wo wollt ihr denn hin?“
„Zur Burg, Frau Bendrup! Dennis, Max und Maike kommen auch mit.“
„Na, dann viel Spaß. Als wir Kinder waren, spielten wir auch oft in den Ruinen.“
Hastig rannte Andi an ihr vorbei und rief: „Tschüs, Mama!“.
Er versteckte eine große Tüte unter dem Arm.
„Hey, junger Mann, du bist aber …“
„Ja, ja. Zum Abendessen wieder da.“
Micha zuckte mit den Schultern und verabschiedete sich von Andis Mutter, die kopfschüttelnd am Türrahmen lehnte.
„Warte auf mich, Andi! Ich komme!“
Ein paar Straßen weiter erreichten sie den Ortsrand. Andi und Micha stützten sich auf ihre Knie und atmeten schwer. Ihr Treffpunkt, die Holzbank am Waldrand, war schon in Sicht.
„Hast du sie bekommen?“, fragte Micha, und Andi holte grinsend fünf weiße Bettlaken hervor.
Als sie die Bank erreicht hatten, begannen sie mit ihren Taschenmessern zwei Löcher in jedes Laken zu schneiden.
„Hey, ihr seid mit den Gespensterkostümen ja schon fast fertig!“ Es war Max’ Stimme, der gerade mit seiner Schwester den Feldweg entlang kam.
„Hi, Jungs!“, sagte Maike, und die beiden Freunde grüßten sie zurück.
„Wo ist denn Dennis?“, fragte Andi „Wolltet ihr den nicht abholen?“
„Er und sein Bruder Tommy saßen noch bei den Hausaufgaben. Er kommt aber nach.“
„OK, dann lassen wir seine Verkleidung einfach hier.“ Er stand auf, reichte jedem ein Laken und warf eines über die Rückenlehne der Bank. „Er muss ja ohnehin hier vorbei.“
„Wartet! Ich lege es noch schnell zusammen“, sagte Meike, während die Jungs noch damit beschäftigt waren, die Augenlöcher der übergestreiften Laken in die richtige Position zu bekommen. „So, wir können!“ Und schon rannten die vier Gespenster durch den Wald zur Burgruine.
Nach ein paar Minuten erreichten sie die Burg, stürmten hinein und heulten dabei so, wie es Gespenster nun einmal machen.
„Kommt! Wir spielen Verstecken!“, sagte Maike. „Ich fange an!“
Während Maike an einer der Wehrmauern stand und zählte, versteckten sich die drei Jungs in den verfallenen Gebäuden der Burgruine. Die meisten Häuser hatten nicht einmal mehr ein Dach. Bei manchen waren sogar die Außenmauern nicht mehr vollständig.
„98, 99, 100. Ich komme!“, rief Maike. „Hey, Dennis, da bist Du ja!“, sagte sie, als das fünfte Gespenst auftauchte. „Los! Such mit!“.
Sie schauten im Bergfried nach, suchten in den Stallungen und im Wachhaus, bis sie alle gefunden hatten.
„Du bist dran!“, rief Andi, schlug Dennis auf die Schulter und die Gespenster versteckten sich erneut. Sie spielten den ganzen Nachmittag in einem fort. Dennis, Andi, Max, Maike und Micha; jeder versteckte sich viele Male.
Danach spielten sie Fangen, rannten lachend durch die steinernen Skelette der Burggebäude und machten den Burghof so lebendig, wie er vielleicht vor Jahrhunderten zuletzt war. Sie spielten Fechtduelle mit Ästen nach, verteidigten ihre Burg vor Raubrittern und rannten, weiterhin völlig unbekümmert, heulend durch den Burggraben. Dabei jagten sie eine Hexe, die sich in einen Raben verwandelt hatte, und rauften miteinander, bis ihre Laken voller Lehm- und Grasflecken waren. Leider vergaßen sie dabei völlig die Zeit.
„Mist!“, sagte Micha. „Es ist schon fast sechs.“
„Oh, nein! Meine Mutter gibt mir Hausarrest, wenn ich wieder zu spät komme. Nicht so kurz vor den Herbstferien“, sagte Andi.
„Dann nix wie los!“, sagte Max, und sie rannten durch das Burgtor zurück in den Wald.
„Das hat Riesenspaß gemacht!“, sagte Micha, als er zu Andi aufgeschlossen hatte, der nicht langsamer wurde.
„Ja, lasst uns morgen wieder hingehen!“, sagte Maike und begann ihr Gespensterheulen. Die anderen stimmten mit ein und so erreichten sie wieder den Waldrand.
„Wartet mal! Anhalten!“, rief Micha und deutete auf die Holzbank.
„Wie kann das denn sein?“, sagte Andi.
Max und Maike stellten sich neben sie und nahmen ihre Laken ab. Sie starrten auf die Bank und auf das Laken, dass - unberührt und weiß - noch immer so lag, wie es Maike hingelegt hatte. Sie drehten sich um, doch vom fünften Gespenst fehlte jede Spur.
„Tut mir leid. Meine Mutter wollte, dass ich noch Mathe lerne“, sagte Dennis, der gerade vom Dorf hoch kam. „Wollen wir wenigstens noch Playstation bei mir spielen?“ Dennis nahm seine Brille ab und kratzte sich am Hinterkopf. „Hey, was ist denn los? Tommy hat euch doch Bescheid geben, dass ich es nicht schaffte. Oder habt ihr etwa ein Gespenst gesehen?“
Doch seine vier bleichen Freunde sagten kein Wort.
Gnade... ein Kindheitstrauma.
AntwortenLöschenIch musste ein bisschen an Kalle Blomquist denken, und zwar an das Buch, das in der Burgruine spielt, wo die Verbrecher irgendwas versteckt hatten. Ein bisschen hab ich einen Kindermörder erwartet, und bin nicht unerheblich erleichtert.
Puh.
:-)
Lily
Ist eine nette kleine Gespenstergeschichte, werter Lichtträger! Das Gespenst "Dennis" stelle ich mir so vor, dass es wohl viele Jahrhunderte nicht mehr so viel Spaß gehabt haben dürfte.
AntwortenLöschenEntdeckt habe ich noch diesen hier: "...und so erreicht sie wieder den Waldrand.." - "erreichten" wäre schon bissel besser.
Hm, steht eigentlich was in den Wettbewerbsbedingungen von "nicht zuvor veröffentlichen"? Wenn ja, dann schnell raus aus dem Blog, oder? Jedenfalls bis zum Sieg...!
@Lily
AntwortenLöschenDie Geschichte ist die erste, mit der ich bei einem Wettbewerb antreten will. Heute war der letzte Tag, um es fristgerecht einzusenden. Allerdings hatte ich mich auch erst Donnerstag spontan entschieden mitzumachen. Aber ich hatte zwei Hände eifriger Korrektoren und Lektoren und nach 50 Stunden permanenter Überarbeitung kam immerhin das hier raus ;-)
@mkh
"Nein!", würde Homer Simpson jetzt sagen. Den Fehler habe ich jetzt mitgeschickt. Zig mal noch gelesen, bevor ich die Geschichte auf das bessere Papier gedruckt und das ganze im Briefkasten versenkt hatte, und doch nicht entdeckt *grrrrr*
Ob ich es korrigiert noch hinterher schicke?
Laut Homepage sind es bereits über 60 Mitbewerber. Ich zweifle, wäre aber bereits über glücklich, meine Geschichte mal gedruckt zu sehen ;-)
Sorry, ich habe gezögert, ob ich das kleine Fitzelding noch erwähnen sollte.
AntwortenLöschenMeinereiner würde das Ding wahrscheinlich - mit der Bitte um Verwendung des korrigierten Anhangs - doch nochmals versenden. (Passiert mir bei diesem und jenem ja auch immer mal wieder!) Bis den Text am MO dann einer liest, ist die korrigierte Fassung schon längst im Mailfach und die alte wird gelöscht...
Darf noch nicht in Printmedien erschienen sein, laut Wettbewerbsbedingungen. Da dürfte ein Blog kein Problem sein.
AntwortenLöschenUnd Fehler würde ich so korrigieren, wie mkh vorschlägt. Macht Sinn.
LG
Lily
Liebe Lily, lieber mkh, herzlichsten Dank für eure Unterstützung. Ich schmeiße die Korrektur heute noch in den Briefkasten und als für den Mehraufwand entschädigendes Goodie lege ich dann noch die optionale CD bei; vereinfacht auch das Veröffentlichen im gegebenen Fall *gg*
AntwortenLöschenZum Glück hatte ich den Fehler übersehen. Sonst hätte ich nie die "Wörter zählen"-Funktion nochmals ausgeführt und festgestellt, dass ich nochzudem das Limit um zwei Wörter überschritten hatte ...
AntwortenLöschenGlück im Unglück nennt man's wohl.
Zum einen:
AntwortenLöscheneine wirklich hübsche Gespenstergeschichte! :)
und zum anderen:
ich drücke Ihnen die Daumen, dass es was mit der Veröffentlichung wird.
Danke schön, Frau Meise. Aber drücken sie nicht unablässig Daumen, sonst können sie den Knopf für die Bustür ja nicht mehr drücken und so nicht mehr zu ihrem orthopädische Krokocowboystiefel tragenden Orthopäden gelangen ;-)
AntwortenLöschenIch bin jedoch auch sehr gespannt, was daraus wird.
Aber die nächste Geschichte für den nächsten Wettbewerb ist ja schon in Arbeit ...
Oh, zu DEM fahre ich ja wieder mit dem Rad, werter Lichtträger, von daher kann ich schon noch ein Däumchen für Sie erübrigen! ;)
AntwortenLöschenViel Erfolg mit der Geschichte.
AntwortenLöschenIch find sie schön. Eine dieser Kindheitsanekdoten, die eigentlich jeder schon erlebt hat.
Eine wirklich schöne Geschichte, das. Viel Erfolg damit!
AntwortenLöschen@meise
AntwortenLöschenSo werde ich dieses Däumchen als persönlichen Geistergeschichtenglücksbringer annehmen. Wie das Eiskalte Händchen der Adams. Eben halt nur ein Däumchen ;-)
@Frau Vivaldi & jay
Besten Dank euch beiden. Bin auch sehr gespannt, wie die Rückmeldung ausschaut.
Sehr schön alle Anmerkungen umgesetzt, mein Lieber! Diese fassung ist um Längen besser als die, die ich zum Review bekam. :-)
AntwortenLöschenViel Glück damit!
Ja, da hast du wohl recht :-))
AntwortenLöschenSchön das du auch m ein Vorschläge auch mit ein... ach moment! Stimmt, hab ja keine gemacht! Trotzdem gut! :-)
AntwortenLöschenAuch wenn ich das Ende habe kommen sehen!
AntwortenLöschenDanke schön. Hast Du aber auch den zweiten Lösungsansatz erkannt, den ich eingebaut habe, also den rationalen und nicht spiritistischen?
AntwortenLöschenGanz schön gruselig. Aber mir gefällt es total! Das Ende ist sehr gelungen.
AntwortenLöschenIch bin sehr gespannt, was der Wettbewerb ergibt!
Freut mich, dass es dir gefallen hat. Ich bin auch sehr gespannt. Im Herbst fällt die Entscheidung. Also maximal bis zur Wintersonnenwende warten *gg*
AntwortenLöschenWas am Ende gefiel dir am besten? Als Mensch erfreut mich das "Dass" bereits sehr, als Schreiber jedoch noch mehr, das "Warum" zu erfahren ;-)
Jetzt möchte ich hier aber doch mal anfragen, wie der Wettbewerb denn jetzt gelaufen ist, wie Ihre Geschichte denn ankam.
AntwortenLöschenLiebe Grüße,
Ihre Meise
Hallo, liebe Frau Meise,
AntwortenLöschenimmerhin war ich zur Gala eingeladen (wie alle Autoren vermutlich); jedoch wurde anderen der Vorzug gegeben. Aber so erging es auch 300 anderen. Ich bleibe am Ball ;-)
Beste Grüße,
Lichttäger
PS Bei meinem Buchprojekt bin ich schon recht weit. Wird eine Kurzgeschichtensammlung ... was sonst *gg*
Werter Herr Lichtträger,
AntwortenLöschenschön, dass Sie am Ball bleiben. Das müssen Sie auch! Jawohl! ;)
Ich fänd's schön, wenn ich irgendwann mal ein Buch von Ihnen in der Hand halten darf (und drin lesen). ;)
Liebe Grüße
und "Weiter so!"
Ihre Meise