Dienstag, 12. Mai 2020

Die vegane Weltverschwörungsgruppe

Attila Hildmann - Die vegane Weltverschwörungsgruppe

Menschen lieben es, Gruppen zu bilden. Das ist geschichtlich betrachtet sinnvoll. Gemeinsam mit anderen überlebt es sich besser. Heute, in Zeiten, in denen zumindest wir keinen Überlebenskampf führen müssen – es gibt keine Hungersnöte, wo eine Gruppe toll wäre, die Überschüsse erwirtschaftet und eingelagert hat, auch keine Kriegszustände, in denen Teil einer Gemeinschaft zu sein, die aufeinander aufpasst und ihre Mitglieder schützt, lebenswichtig wäre –, schwenkt das Gruppenleben zum Gruppenglauben. Du glaubst, die Erde ist flach? Es gibt eine Gruppe. Du glaubst, es gibt eine kleine weltdominierende Elite. Die Gruppe gibt es. Du glaubst, du lebst in einer Diktatur, regiert von der BRD GmbH oder unterirdisch lebenden Echsenmenschen, angeführt von der Frau mit der Raute? Auch hier gibt es eine Gruppe. Das hilft dir zwar nicht, wenn eine Hungersnot oder Krieg ausbrechen, aber es beschäftigt dich, solange alle satt und in Frieden leben. Die Liebe zur Bildung von Gruppen ist Teil unseres Denkens. Treffen wir auf einen anderen, versuchen wir unterbewusst, ihn in eine Gruppe einzuordnen. Das hilft dabei, ihn aufgrund von Erfahrungen, die mit Angehörigen solcher Gruppen gemacht wurden, einzuschätzen. Hilfreich, aber nicht sinnvoll, wenn es dabei bleibt, ohne das Individuum im Anschluss ebenfalls einer Prüfung zu unterziehen und neue Erfahrungen zuzulassen. Das passiert gerade im Casus Attila Hildmann. Der Vegan-Kochbuch-Autor machte kürzlich von sich reden, als er eine Weltverschwörung im Zusammenhang mit Corona medial bekannt gab, sich kämpferisch mit Gewehr in Pose ablichtete und zur Demo aufrief, um die Demokratie zu retten.

„Du bist doch Veganer, oder?“, höre ich, als ich das Haus verlasse. „Ja!“, sage ich und glaube zu erkennen, wie mein Gegenüber hinter dem Rücken aus der Verpackung seines Döner-Sandwichs einen Alu-Hut formt. „Kennst doch den Hildmann, oder? War in den Nachrichten!“, sagt mein Bekannter. Ich nicke, sage: „Ja!“ und denke, dass dessen veganer Snack-Laden in Berlin auch einen fleischlosen Döner hat und frage mich, welche Kundschaft er künftig haben wird. Viele seiner veganen Kunden wird er verlieren und dafür ein paar Impf-Gegner, Reichsbürger und Echsenmensch-Experten gewinnen. Wahrscheinlich werden einige Großabnehmer seine veganen Produkte aus dem Sortiment nehmen. Hatte ohnehin bislang keins getestet, denke ich mir und konzentriere mich wieder auf meinen Bekannten. Der schaut nachdenklich nach unten. Er sucht nach der passenden Gruppe. „Corona-Lagerkoller!“, mutmaßt er. „Psychose. Schlimm sowas!“ Ich nicke. Und bin gleichzeitig überrascht. „Hitler war auch Vegetarier!“, habe ich schon so oft gehört. Das Reductio ad Hitlerum ist ein beliebter Trugschluss, der rhetorisch oft zum Einsatz kommt – so durchschaubar das Scheinargument auch ist. Es ist der plumpe Versuch, pflanzliche Ernährung zu diskreditieren, indem die schlimmste Figur der deutschen Geschichte mit ihr in Verbindung gebracht wird; dabei hält sich diese Annahme genauso hartnäckig, wie sie schlichtweg nicht zu treffend ist. Reductio ad Hildmannum! Damit hatte ich gerechnet. Ist Hildmann so, muss die Gruppe so sein: Weltverschwörerisch! Dabei ist, vegan zu essen und vegan zu wirtschaften nur eine Komponente des Individuums Hildmann. Ebenso gehört er derzeit in die Gruppe der Weltverschwörer und vielleicht auch in die der unter Psychosen Leidenden. Ich wünsche ihm jedenfalls gute Besserung. Wenn ich mal wieder in Berlin bin, werde ich dennoch nicht bei ihm essen.

Bildquelle: Wikipedia,  Creative-Commons-Lizenz „CC0 1.0 Verzicht auf das Copyright“ 


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