Klickscham auf der Couch? |
Heute vor zehn Wochen begann es für mich. Alle Veranstaltungen, die ich geplant hatte, wurden abgesagt oder hoffnungsvoll auf den Herbst verschoben. Ich selbst verschob mich auch, und zwar auf die Couch, denn das Erste, was mir auffiel, war, dass ich ohne kaum mehr etwas zu tun hatte. Zudem war es für meine Kreativität mehr als lähmend, ohne Impulse von anderen zu Hause sein zu müssen. Also saß ich abends auf der Couch, betrachtete die Wand und zählte die Löcher, die angenagelte Bilderrahmen auf ihr hinterlassen hatten. Zwei! Es hängen genau zwei Bilder an besagter Wand. Ich fand schnell heraus, dass dies nichts war, das mich lange herausfordern würde. Es rettete mich mein fast erwachsener Sohn. „Papa“, sagte er, „ich richte dir jetzt Netflix ein!“ Minuten später hatte er mir einen Zugang zu seinem Account erstellt. Das Einzige, was ich tun musste, um mich vor dem abendlichen Bis-Zwei-Zählen zu retten, war, mit der Maustaste auf jenen Knopf zu drücken, unter dem Papa stand und auf dem frecherweise ein grinsender Glatzkopf abgebildet war. Ich tat es und war beschäftigt. Doch das war nicht der einzige Effekt, denn es weckte auch meine Kreativität.
Während ich einem Wikinger zuschaute, wie er seine doppelköpfige Axt schwang, erinnerte ich mich an einen Zeitungsbericht: Eine Stunde Video-Streaming produziert so viel CO2 wie ein Kilometer Autofahren. Ich versuche seit langem, so wenig mit dem eigenen Auto zu fahren, wie es mir nur möglich ist, und nun setze ich mich bereitwillig auf die Couch und fahre abendlich ein paar Kilometer, ohne dabei vom Fleck zu kommen? Ist das ökologisch? „Die Internetnutzung in Deutschland produziert jedes Jahr so viel CO2 wie der gesamte Flugverkehr“, las ich weiter. Weltweit produzieren IT-Geräte und -Anwendungen jährlich so viel CO2, wie Deutschland insgesamt emittiert. Das Fliegen habe ich aus bekannten Gründen aufgegeben, und nun scheint es, als sei ich dennoch Passagier einer Daten-Airline. Während vor meinen Augen die spanische Banknotendruckerei überfallen wurde, sinnierte ich darüber, was auf der Habenseite des Vergleichs steht. Möchte ich einen Film ausleihen, ohne auf das Internet zurückzugreifen, fällt mir die gute alte Videothek ein.
Suche ich auf der Internetseite der Gelben Seiten nach Videotheken (0,2 Gramm CO2 verbraucht das) bekomme ich im 20-Kilometer-Umkreis von Friedberg ganze drei Ergebnisse. Im Mittel beträgt die Entfernung für alle, die dazwischen wohnen, gut vier Kilometer, acht hin und zurück. Das ist sind zweieinhalb Serienstaffeln, in denen ich Sherlock Holmes zahlreiche Morde aufklären sehen kann. Hinzu kommt, dass jede Videothek ein großer 24-stündig beheizter Raum ist, Fläche verbraucht und zig-hundertfach eigens dafür, ebenfalls unter CO2-Freisetzung produzierte Polycarbonat-Scheiben im Polypropylen-Mantel beherbergt. Bedeutet das, dass Streaming doch nicht so umweltschädlich ist? Nein, es bedeutet nur, dass die Rechnung nicht so einfach ist, wie häufig dargestellt. Bevor zu streamen beliebt wurde, gab es ein Vielfaches an Videotheken. Deren eingesparte Energieaufwände stehen auf der Habenseite. Sicherlich streamen wir heute mehr als wir früher in die Videothek fuhren. Dafür waren die Fernseher damals energiehungriger als unsere streamenden Laptops und Tablets heute. Wie üblich macht die Dosis das Umwelt-Gift. Die isolierten Zeiten gehen vorbei, und mit ihnen ersetzt der Biergarten Declan Harps Kampf gegen die Hudson’s Bay Company. Das schont die Umwelt und zugleich die Augen!
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